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Die ersten Jahre bestimmen den Rest des Lebens

Die ersten Jahre bestimmen den Rest des Lebens

Willy Wahl, 20. August 2015

Eröffnungsvortrag auf der Konferenz „Betreuung der Kleinkinder zwischen Familie und Staat“ des Ministeriums für Arbeit und Soziales der Tschechischen Republik.

Dem bedeutenden tschechischen Kinderpsychologen Professor Zdeněk Matějček (1922  –2004) gewidmet

Vor 800 Jahren wollte der deutsche Kaiser Friedrich II. von Barbarossa (1194  –1250) herausfinden, welches die Ursprache ist.

So ließ er im berühmten Castel del Monte Neugeborene verschiedenster Völker aus Afrika, Asien und Europa sammeln   – als Kaiser waren ihm solch grausame Experimente möglich   – und von taubstummen Ammen betreuen, die die Kinder nur stillen und versorgen, nicht aber mit ihnen kommunizieren und spielen durften. Welche Sprache würden sie von selbst lernen? In welcher Sprache würden ihre ersten Worte sein?

Der Kaiser hat es nie erfahren, denn alle Kinder verstarben viel zu früh dafür, ja sie gingen buchstäblich ein.1 Der Mensch ist auf Gemeinschaft mit anderen Menschen hin angelegt, warum Einzelhaft immer noch eine der schlimmsten Arten der Folter ist, selbst wenn man dem Gefangenen sonst gar nichts tut.

Wir wissen heute aus einer Vielzahl von Untersuchungen, was der Kaiser nicht wusste: Kinder brauchen nicht nur Milch, Nahrung und körperliche Pflege, sondern sind genauso lebensnotwendig auf enge Bindung, Gespräch, Körperkontakt, Emotionen, Spiel und Zusammenleben angewiesen.

Ich bin in einem Jodmangelgebiet aufgewachsen und habe als Kind zuwenig Jod zu mir genommen. Deswegen muss ich heute jährlich zum Arzt, um meine Schilddrüse untersuchen zu lassen und täglich Medikamente einnehmen.

Während dieser Zusammenhang jedermann einleuchtet, wollen viele die ebenso wissenschaftlich nachweisbaren Zusammenhänge zwischen dem Umgang mit Kleinkindern im Bereich von Zuwendung, Fürsorge, Gespräch, Bezugspersonen   – vor allem Mutter und Vater   – und vielem anderen mehr zu späteren Problemen der Kinder in Blick auf Sozialverhalten oder Bildung nicht sehen.

Wir wissen zum Beispiel längst: Je mehr und je vertraulicher mit kleinen Kindern gesprochen wird, desto schneller entwickelt sich ihr Hirn, desto höher wird dort die Zahl der Synapsen, desto besser lernen sie sprechen und denken, und desto leichter fällt ihnen später Bildung, aber auch emotionale Intelligenz und selbstbewusstes Anpassen an immer neue Situationen.

Kurzum: Jede Stunde, die man mit Kindern spricht oder die sie Erwachsenen bei Gesprächen zuhören, gibt ihnen einen Startvorteil für das Leben. Also müsste der Staat eigentlich daran interessiert sein, dass Kinder so viel Zeit wie möglich mit einem oder beiden Elternteilen verbringen und außerhalb dieser Zeit gewährleistet ist, dass die Betreuung von Kindern qualitativ sehr hochstehend ist, nicht nur die sichtbaren Funktionen umfasst, und einen möglichst kleinen Schlüssel Kinder  –Betreuer bietet   – Psychologen und Experten raten zu einer Betreuungsperson für zwei2 oder drei/vier3 Kinder!

Die weltweite psychologische Bindungsforschung4 hat seit Jahrzehnten belegt, dass in den ersten Jahren nach der Geburt Bindung wichtiger als Bildung ist und dass eine frühe Phase der intensiven, vertrauensvollen Bindung an gleichbleibende Erwachsene die Grundlage schafft, spätere Bildungsangebote auch zu nutzen, während die fehlende Bindung in den ersten Jahren durch noch so viele Bildungsangebote später nicht ersetzt werden kann.

Im ersten Lebensjahr (12 Monate) geht jede Abweichung von der vorwiegenden Betreuung durch die Mutter oder Eltern weltweit schlicht und einfach mit einer steigenden Sterblichkeitsrate von Säuglingen einher, worauf besonders der Münchener Kinderarzt Theodor Hellbrügge, Langzeitinstitutsdirektor an der Universität München und Begründer der auch eng mit Prag verbundenen Internationalen Akademie für Entwicklungs-Rehabilitation immer wieder hingewiesen hat.5

Das erste Lebensjahr gehört das Baby nicht dauerhaft in die Hand anderer Menschen, wenn es irgendwie möglich ist und wenn, dann nur kurzzeitig an jemanden, den das Baby über die Mutter bereits gut kennen gelernt hat.

Über diese 12 Monate hinaus geht die Zahl der ersten 18 Monate, die selbst Krippenbefürworter wie Wassilios Fthenakis als Untergrenze für jeden Krippenbesuch angeben, unabhängig davon, dass die Krippentauglichkeit daneben noch in jedem Einzelfall zu prüfen ist und höher liegen kann. Bis 18 Monate ist das Baby auch nicht auf wechselnde Kinder eingestellt, erst danach kann es allmählich Gewinn aus dem Spiel mit anderen, wechselnden Kindern gewinnen.

Nach 12 und 18 Monaten wird in der Forschung die Grenze 36 Monate oft genannt. Es ist unumstritten, dass in den ersten drei Lebensjahren verlässliche Bindungen und Strukturen von größter Bedeutung für das spätere Leben sind und schon ein Umzug, geschweige denn ein Wechsel der Hauptbetreuungsperson oder etwa eine Scheidung, so weit wie möglich vermieden werden sollten.

Die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung schreibt dazu   – leider vom Deutschen Familienministerium ungehört: „Es ist Forschungs- und Erfahrungswissen (und keine Ideologie), dass für die Entwicklung des kindlichen Sicherheitsgefühls, für die Entfaltung seiner Persönlichkeit und für die seelische Gesundheit eine verlässliche Beziehung zu den Eltern am förderlichsten ist. Gerade in den ersten drei Lebensjahren ist die emotionale und zeitliche Verfügbarkeit von Mutter und Vater dafür von großer Bedeutung.“6

Wollen wir den Funktionsverlust der Familie vergrößern?

Viele Probleme der modernen Familie sind entstanden, weil die Familie in einem gigantischen Funktionsverlust in den letzten 300 Jahren große Bereiche ihrer früheren Aufgaben verloren hat. Die wichtigsten sind ihre wirtschaftliche und ihre erzieherische Funktion.

Damit sind auch wesentliche Stabilisatoren der Familie weggefallen, weshalb es für viele Menschen einen immer geringeren Verlust bedeutet, Familien zerbrechen zu lassen oder gar nicht erst eine Familie zu gründen.

„Vor allem sind in vielfach vermittelter Weise ursprünglich im Rahmen von Haus und Familie wahrgenommene Funktionen auf über geordnete Sozialgebilde, im Besonderen auf den Staat, übergegangen.

Über Jahrhunderte und Jahrtausende hin betrachtet kann eine solche Abgabe von Funktionen an höherrangige Sozialgebilde praktisch in allen Lebensbereichen festgestellt werden, im Kult genauso wie im Rechtswesen, im Wirtschaftlichen genauso wie in der Erziehung. Dieser Prozess der Funktionsentlastung, wie er auch ganz augenfällig in unserer Gegenwart abläuft, ist eine der Grundtendenzen in der historischen Entwicklung der Familie.“7

„Wir haben gesehen, dass die Funktionsentlastung der Familie in der Vergangenheit begleitet wurde von einer Funktionsanreicherung neben- oder übergeordneter Sozialgebilde, bzw. dass sie deren Entstehung überhaupt erst bewirkte. Die Schule, der Betrieb, die Gemeinde, vor allem der Staat mit seinen vielfältigen Gemeinschaftseinrichtungen, wären hier zu nennen.“8

Jahrhundertelang war die Familie die Kerninstitution, mit der der normale Bürger am allermeisten zu tun hatte. Sie prägte sein Leben, besorgte emotionale, wirtschaftliche und andere Sicherheit und sorgte für eine lebensnahe Ausbildung. Mit der Industrialisierung ging die wirtschaftliche Funktion verloren, mit der Schule die bildungsmäßige usw. Das Erstaunliche ist aber, dass nach wie vor statistisch gesehen nichts stärker über die Zukunft der Kinder entscheidet, als die Familie, aus der sie kommen!

Ob es Bildung, sozialer Status, Einkommen, Sozialkompetenz, Selbstbewusstsein oder gesellschaftliches Engagement ist: Statistisch ist die Prägung durch die Familie als Kind für den späteren Erwachsenen entscheidender als alles andere, und das, obwohl man schon lange versucht, diese für das Kind selbst ungerechte Situation zu entschärfen, etwa durch das Bildungssystem.

Mir geht es hier nicht darum, den Funktionsverlust der Familie vergangener Jahrhunderte zu beklagen. Wir haben gleichzeitig viel an Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten gewonnen. Aber es geht meines Erachtens heute um die Frage: Wollen wir der Familie die letzten Funktionen und Aufgaben nehmen, die sie jetzt noch hat? Und kann der Staat wirklich die letzten verbleibenden Funktionen selbst übernehmen und anderen Institutionen übertragen?

Den ganzen Vortrag findet man hier: