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John Bowlby "Bindung als sichere Basis"

John Bowlby "Bindung als sichere Basis"

Willy Wahl, 28. Mai 2019

Buch Bowlby Bindung als sichere Basis
Best of Bindung

Wie wächst ein Kind zu einem gesunden, ausgeglichenen und selbstsicheren Menschen heran? Die sichere Bindung an die Eltern ist die Basis, von der aus Kinder die Welt erkunden und sich entwickeln. Misslingt sie, können sich Eifersucht, Angst, Wut, Kummer oder Niedergeschlagenheit festigen und Menschen ein Leben lang belasten.

John Bowlby schildert Anfänge, Grundkonzepte und empirische Prüfung der Bindungstheorie. Er zeigt, wie sich seine Erkenntnisse in der Psychotherapie anwenden lassen: Die Aufarbeitung früher Bindungserfahrungen im Erwachsenenalter hilft bei der Bewältigung schwieriger Lebenssituationen und psychischer Probleme. Der Psychotherapeut übernimmt dann die Rolle der verlässlichen Basis für die Erkundung früherer Erfahrungen und Gefühle. Eltern erkennen, wie ihre eigene Bindungsgeschichte ihr Erziehungsverhalten gegenüber ihren Kindern prägt   – damit leidvolle Bindungsbeziehungen nicht über Generationen weitergegeben werden.

Zielgruppe

PsychologInnen, ÄrztInnen, PsychotherapeutInnen, PädagogInnen, SozialarbeiterInnen

Autoreninformation

John Bowlby
John Bowlby
(1907  –1990), britischer Psychiater und Psychoanalytiker, arbeitete und forschte an der Tavistock Klinik in London. Für seine Arbeiten erhielt er weltweit zahlreiche Auszeichnungen bedeutender Fachgesellschaften, u. a. der American Psychological Association und der British Pediatric Association. Weitere Werke von John Bowlby im Ernst Reinhardt Verlag: „Bindung und Verlust“ (Band 1 bis 3, 2006/2018); „Frühe Bindung und kindliche Entwicklung“ (2016).

Leseprobe

8 Bindung, Kommunikation und therapeutischer Prozess

Im zweiten Teil meiner 1976 am Maudsley Hospital gehaltenen Vorlesung (The making and breaking of affectional bonds, 1977) habe ich einige therapeutische Aspekte der Bindungstheorie skizziert.

Durch neuere Studien bestärkt, möchte ich im Folgenden untersuchen, inwieweit die frühen Erlebnisse des Patienten das Übertragungsgeschehen beeinflussen und auf welche Weise ihn der Therapeut zur Rekonstruktion seiner wichtigsten inneren Selbst- und Objektmodelle zu befähigen sucht, damit er dem Bann verschütteter leidvoller Erfahrungen entfliehen und seine jetzigen Bezugspersonen adäquater beurteilen kann.

„Aber was so unverstanden geblieben ist, das kommt wieder; es ruht nicht, wie ein unerlöster Geist, bis es zur Lösung und Erlösung gekommen ist.“ (S. Freud, Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben. GW, Bd. 7, 355)

„Wer die eigene Vergangenheit nicht zu erinnern vermag, der wird ihr auch nie entrinnen.“ (Santayana1905).

Die fünf Hauptaufgaben des Therapeuten

Obwohl die bislang entworfene Persönlichkeitstheorie alle dreiHauptformen der heutigen psychoanalytischen Therapie (Einzel-, Familien- und Gruppentherapie) abdeckt, beschäftige ich mich hier nur mit der Einzeltherapie.

Nach der Bindungstheorie arbeitende Therapeuten suchen dieVoraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Patient seinen inneren Selbst- und Objektmodellen (bzw. den inneren Arbeitsmodellen seiner Bindungsfiguren) nachspüren und diese mit Hilfe der in der therapeutischen Beziehung gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen neu strukturieren kann; dabei lässt sich die stützende Funktion des Therapeuten in fünf Hauptaufgaben gliedern.

Erstens muss er als verlässliche Basis fungieren, von welcher aus der Patient (frühere wie aktuelle) bedrückende und schmerzliche, ihm kognitiv bislang weitgehend unzugängliche Szenen zu hinterfragen vermag, darauf vertrauend, im Therapeuten einen geistig wie seelisch adäquaten Partner gefunden zu haben, der ihn versteht, ermutigt und gelegentlich auch führt.

Zweitens muss der Therapeut den Patienten animieren, darüber nachzudenken, wie er heute seinen wichtigsten Bezugspersonen begegnet, welche Gefühlserwartungen beide Seiten hegen, mit welchen unbewussten Vorurteilen er an enge Beziehungen herangeht und wie es ihm ein ums andere Mal „gelingt“, bestimmte Situationen zum eigenen Nachteil zu gestalten.

Vor allem aber, und damit sind wir bei der dritten Aufgabe, ist der Patient zur Prüfung der therapeutischen Beziehung zu ermuntern, weil dieses besondere Verhältnis all seine von den Selbst- und Elternrepräsentationen geprägten Wahrnehmungen, Annahmen und Erwartungen widerspiegelt.

Die vierte therapeutische Aufgabe besteht in der behutsamen Aufforderung, der Patient möge seine aktuellen Wahrnehmungen, Erwartungen, Gefühle und Handlungen mit den ihm aus Kindheit und Jugend erinnerlichen Erlebnissen bzw. Situationen vergleichen und sich dabei vor allem auf die Rolle der Eltern und deren vielfach wiederholte Äußerungen konzentrieren.

Bei diesem ebenso schmerzlichen wie schwierigen Prozess muss der Patient in Bezug auf die Eltern immer wieder ihm bislang unvorstellbare, ungebührliche Gedanken und Gefühle zulassen dürfen, die ihn womöglich ängstigen, erschrecken, befremden oder ihm unannehmbar dünken und ihn denEltern oder dem Therapeuten gegenüber unerwartet stark agieren lassen.

Fünftens ist dem Patienten die Einsicht zu erleichtern, dass seine den eigenen bitteren Erfahrungen oder den fortgesetzten elterlichenVerzerrungen entstammenden (in der Literatur leider allzu oft als „unbewusste Phantasien“ des Kindes qualifizierten) Selbst- und Objektbilder vielleicht überholt sind oder von vornherein unzutreffend waren. Hat der Patient Struktur und Entstehungsgeschichte dieser„inneren Leitmodelle“ nachvollzogen, so wird ihm deutlich, welcheGefühle, Gedanken und Handlungen sein heutiges Welt- und Selbstbild geformt haben. Über den Kontakt und die Beziehungen zu emotional bedeutsamen Menschen, etwa dem Therapeuten oder den Eltern, kann er sodann die Stimmigkeit und Gültigkeit jener inneren Arbeitsmodelle prüfen, einschließlich der daraus resultierenden Vorstellungen und Handlungen.

Ist dieser Prozess erst einmal in Gang gesetzt, vermag er die ursprünglichen inneren Arbeitsmodelle richtigerweise als vormals unvermeidliche Ausformungen eigener Erlebnisse bzw. fortwährender elterlicher Verzerrungen zu begreifen und sinnvolle Alternativen zu entwickeln, wobei ihm der Therapeut die Ablösung von den alten, unbewussten Schemata erleichtert und zugleich neue Gefühls-, Denk- und Handlungsebenen zu erschließen trachtet.

Der Leser wird Parallelen zu den Prinzipien entdecken, wie sie von jenen analytischen Psychotherapeuten vertreten werden, die in Beziehungsstörungen den „Schlüssel zum Problem“ sehen, fast ausschließlich das Übertragungsgeschehen bearbeiten und der frühen Elternbeziehung (meist) großes Gewicht beimessen.

Als prominente britische Vertreter dieses Standpunktes seien Fairbairn, Winnicott und Guntrip, als prominente amerikanische Vertreter Sullivan, Fromm-Reichmann, Gill und Kohut erwähnt; neuere einschlägige Arbeiten haben Peterfreund (1983), Casement (1985), Pine (1985) und Strupp & Binder (1984) sowie, auf dem Gebiet der Kurzpsychotherapie, Malan (1973) und Horowitz et al. (1984) vorgelegt.

Ich selbst möchte hier die Gruppe um Horowitz hervorheben, deren „Stresstherapie“ ein meiner eigenen Bindungstheorie weitgehend ähnliches Konzept zugrunde liegt. Wenngleich sich diese Kollegen vorrangig mit aktuellen Stressoren befassen, scheint mir ihr Vorgehen auch auf solche Patienten anwendbar, bei denen die Bewältigung chronischer, zum Teil auf früheste belastende Erlebnisse zurückgehender Störungen im Vordergrund steht.

So sinnvoll die separate Auflistung der genannten Aufgaben erscheint, sind sie doch selbst in den fruchtbarsten Therapiesitzungen oft gar nicht voneinander zu trennen. Da das Gefühl, beim Therapeuten gut aufgehoben zu sein, der Grundstein zum Erfolg ist, wollen wir uns zunächst mit der von Winnicott als „Holding“, von Bion als „Containing“ beschriebenen verlässlichen therapeutischen Basis beschäftigen.

Wie Kinder zur Entfaltung ihres Explorationsdranges die Mutter brauchen, sollte der Therapeut dem erwachsenen Patienten eine verlässliche Basis für dessen geistig-seelische Selbstexplorationen und Verbalisierungen bieten, ihn dabei ebenso aufmerksam wie sensible begleiten und zugleich mitfühlend zu verstehen suchen, wohl wissend, wie misstrauisch die frühen negativen Erlebnisse den Patienten gemacht haben und ihn daher zweifeln lassen, wie ehrlich es der Therapeut meint und ob er seine schwierige Situation überhaupt begreift.

Andererseits kann das ungewohnte Entgegenkommen die Hoffnung nähren, nun endlich die so lange entbehrte Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erhalten. Im ersten Fall wird der Therapeut überkritisch gesehen und abgelehnt, im zweiten Fall glorifiziert. Da solche Missverständnisse und Fehlannahmen, einschließlich der zugehörigen Gefühle und Verhaltensweisen, psychische Störungen geradezu konstituieren, sollte man als Therapeut möglichst viele Formen solcher Fehlannahmen und deren früheste Auslöser kennen, ansonsten wird man Weltbild und Gefühlsleben des Patienten nur schwer verstehen.

Da die therapeutische Beziehung von der Biographie des Patienten wie auch vom Verhalten des Therapeuten bestimmt wird, muss letzterer stets seine persönlichen Anteile und damit die eigenen Kindheitserlebnisse reflektieren. Angesichts der Fülle an Publikationen zur Relevanz dieser Gegenübertragung sei hier nur noch einmal herausgestellt, dass der Schwerpunkt immer auf der aktuellen Beziehung zu liegen hat und der Patient nur insoweit zur Exploration früher Erlebnisse ermuntert werden darf, wie jene noch immer seine Gefühle und Interaktionen prägen.

Vor diesem Hintergrund will ich nun einige gängige Fehlannahmen und deren vermutliche Ursachen erörtern, wobei bindungstheoretisch orientierte Therapeuten sicher einen ganz anderen Standpunkt als die von klassischen Persönlichkeitstheorien bzw. Störungsmustern ausgehenden Kollegen beziehen.

Wer in den Fehlwahrnehmungen und Fehlannahmen seiner Patienten begreifliche Ausläufer früher Erlebnisse bzw. immer wieder eingeredeter Abläufe sieht, ist gewiss anderer Auffassung als jener Therapeut, der solche Fehlwahrnehmungen und Fehlannahmen als irrationale Abkömmlinge unbewusstautonomer Phantasien wertet. Im Folgenden referiere ich neben epidemiologischen auch die bereits erwähnten entwicklungspsychologischen Studien, ferner familientherapeutische Beobachtungen und nicht zuletzt meine eigenen, aus Therapien und Supervisionen gewonnenen Einsichten.
Die fünf Hauptaufgaben des Therapeuten
Seite 112-115

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort zur 1. deutschen Auflage von Oslind und Burkhard Stahl
Geleitwort von Jeremy Holmes
Vorwort
Danksagung
Elterliches Pflegeverhalten und kindliche Entwicklung
Die Entstehung der Bindungstheorie
Psychoanalyse als Kunst und Wissenschaft
Psychoanalyse als Naturwissenschaft
Gewalt in der Familie
Erlebnisse und Gefühle, zu deren Verdrängung Kinder regelrecht gezwungen werden
Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung
Bindung, Kommunikation und therapeutischer Prozess
Literatur                    
Personenregister
Sachregister